Text von Max Kassun, Version mit Quellenangaben
Ungleiche Geschwister
Ungleichheit kommt in vielen Formen. Natürlich gibt es soziale Ungleichheit, ungleiche Bildungschancen, Ungleichheit zwischen Mann und Frau – das sind die naheliegenden Ungleichheiten, oft gesellschaftspolitische Fragen. Natürlich ist jeder Mensch individuell und einzigartig oder anders gesagt:
Alle Menschen sind ungleich. Wie wir als Gesellschaft damit umgehen ist oft und notwendigerweise Gegenstand der Diskussion. Doch wie gehen wir im Kleinen damit um? Zum Beispiel in der Familie?
Geschwister sind auch ungleich. Selbst eineiige Zwillinge teilen sich zwar dasselbe Erbgut, doch nur bis sie sich im Mutterleib voneinander trennen, von da an entwickeln sie sich immer weiter auseinander, nach neusten Forschungen nicht nur durch ihre unterschiedlichen Prägungen und Erlebnisse, sondern durch Mutationen auch genetisch.[1] Ungefähr 75% der Menschen in Deutschland haben mindestens ein Geschwisterkind.[2] Wir wissen, geprägt durch Freud, um die Wichtigkeit der Beziehung zwischen dem Kind und den Eltern, man spricht hier von der Primärbeziehung, einer Beziehung von unten nach oben[3] – die horizontale Geschwisterbeziehung erscheint dagegen sekundär. Doch die Beziehung zu unseren Geschwistern ist unsere erste Beziehung auf Augenhöhe, wir nehmen unbewusst unsere erste, aktive Rolle ein.[4] Hier reichen dann oft wenige Jahre Altersunterschied um diese festzusetzen, wer hat das Sagen und wer trägt die Schultasche hinterher? Aber auch: Wer kümmert sich, wer erklärt uns wie es funktioniert?
Bei der Beschäftigung mit der Ungleichheit von Geschwistern habe ich direkt an meine Oma denken müssen und an den Riss, der entlang ihrer Schwester und ihr durch unsere Familie verläuft. Ihre Schwester, meine Großtante, die ich nie kennengelernt habe, da zu ihrer Seite der Familie kein Kontakt mehr besteht, ebenso wenig wie zu ihren Kindern und Enkelkindern, obwohl alle in der gleichen Stadt wohnen. Ich habe daraufhin lange mit ihr darüber gesprochen.
Die ungleiche Beziehung zur 3 Jahre älteren Schwester fing durch das Schultasche hinterhertragen an. Anfangs hat meine Oma ihre ältere Schwester bewundert. Als meine Oma dann aber nach der Volksschule, entgegen dem Willen ihres Vaters, auf die weiterführende Schule ging, um später eine Lehre machen zu können und ihre Schwester pflichtbewusst auf die Frauenfachschule, um später eine gute Hausfrau sein zu können, da bildete sich ein neues Band. Der Vater und die Schwester als Einheit gegen meine Oma. Sie würde sich für etwas Besseres halten und das, obwohl sie sich nie besonders hervorgetan, im Gegenteil alles getan hatte um unter dem Radar zu bleiben. Auch um den Schlägen ihres Vaters zu entgehen, die sie für die kleinsten Vergehen und Ungehorsamkeiten zu erwarten hatte. Umgekehrt wurde sie für das Verhalten ihrer Schwester immer mitbestraft, sobald diese etwas ausgefressen hatte, auch wenn sie gar nichts damit zu tun hatte. Einmal als ihre Schwester etwas geklaut hatte, wurden beide zwei Wochen lang eingesperrt.
In einer anonymen Befragung gaben ca. 70 % der Eltern an, ein Lieblingskind zu haben.[5] Was gemeinhin als Tabu gilt, scheint also für die Mehrheit zu zutreffen.
Doch warum hatte sich meine Großtante so gegen ihre Schwester verschworen? Die Beziehung zwischen gemeinsam aufwachsenden Geschwistern besteht aus drei wesentlichen Komponenten: Beobachten, bewundern und beneiden. Sie sind immer Verbündete und Rivalen zugleich, mal überwiegt das eine, mal das andere, mal auch sehr deutlich. Die Rivalität kommt, da aufwachsende Kinder zur Entwicklung die Liebe der Eltern brauchen, so wie Pflanzen das Wasser. Sobald also mehr als ein Kind da ist, buhlen sie um das Wasser. Wird dann ohnehin wenig gegossen, ist die Rivalität umso größer. 10% aller Menschen, die welche haben, geben an unter ihren Geschwistern zu leiden.[6] In Anbetracht der Rivalität eine gar nicht mal so hohe Zahl.
Dieses Thema beschäftigt und fasziniert uns schon immer, wir haben Thomas und Heinrich Mann, über die es sogar eine Doppelbiografie mit dem Titel „Die ungleichen Brüder“ gibt, die Gallagher Brüder, aktuell Prince William und Prince Harry und natürlich Kain und Abel mit dem berühmten Brudermord. Die beste Darstellung einer komplizierten Schwesternbeziehung, die ich seit langem gesehen habe, ist die der Hauptfigur zu ihrer Schwester in der Serie „Fleabag“ von Phoebe Waller-Bridge.
Als meine Oma meinen Opa heiratete, ebenfalls gegen den Willen ihres Vaters, da er kein Dachdeckermeister war, hielt ihre Schwester nicht zu ihr. Vermutlich immer noch, um dem Vater zu gefallen. Sie heirateten dann alleine, ohne den Segen des Vaters und der Schwester. Von da an ging auch der Kontakt der Schwestern immer weiter auseinander. Einmal, ihr Vater war schon sehr alt und ihre Schwester und sie besuchten ihn, nahm ihre Schwester ihr noch im Laufen die Kaffeetasse aus der Hand, um sie dem Vater hinzustellen. So tief saß das Bedürfnis nach Anerkennung und Liebe in ihr. Als der Vater meiner Oma gestorben war, waren beide um 15 Uhr an seinem Haus verabredet. Als meine Oma ankam, war bereits alles ausgeräumt, ihre Schwester war schon ein paar Stunden vorher da gewesen. Meine Oma war zu müde, um etwas zu sagen.
Inzwischen ist ihre Schwester im Heim und dement. Meine Oma hat sie dort einmal besucht, sie erzählte ihr, ihre Eltern hätten sie auch schon oft besucht – da war ihre Mutter schon seit 50, ihr Vater seit 20 Jahren tot. Ich habe meine Oma gefragt, was sie und ihre Schwester gemeinsam hätten, bei allen Verschiedenheiten. Da musste sie lange überlegen, schließlich nannte sie die Liebe zu ihrer Mutter, die sehr früh gestorben war. Die Pflege ihres Grabes hat sie für eine Weile verbunden.
Obwohl meine Oma immer benachteiligt wurde, war sie es nicht, die langfristig darunter gelitten hat. Sie hat sich geschworen bei ihren Kindern Gerechtigkeit walten zu lassen, sie nie ungleich zu behandeln. Und das, obwohl sie – wer weiß – vielleicht auch zu den 70% der Menschen mit Lieblingskind gehört. Sie hat es sie zumindest nie spüren lassen. Ihre Schwester hingegen hat ihre Einstellung weitergeben, Geschichten über Neid, Ungerechtigkeiten, Erbschaften und andere Hässlichkeiten ziehen sich durch die folgenden Generationen hindurch. Ich habe noch nie so oft abwechselnd die Wörter „vererbt“ und „enterbt“ gehört. Meine Oma hatte damit später zum Glück nichts mehr zu tun. Und wenn ich als Kind mal einen 5 Euro-Schein von ihr zugesteckt bekommen habe, dann hat sie meiner Schwester 5 Euro auf ihr Sparbuch überwiesen.
Seine Kinder exakt gleich zu behandeln ist gar nicht möglich und sollte auch nicht das absolute Ziel sein. Jedes Kind hat auch unterschiedliche Wünsche und Bedürfnisse. Doch sobald sich ein Kind dauerhaft benachteiligt fühlt, hinterlässt das Narben. Mal bekommt eine Pflanze mehr Wasser, mal die andere, doch wird eine über längere Zeit nicht gegossen, so verliert sie Blätter. Unwiederbringlich.
Wie wir im kleinen Rahmen der eigenen Familie mit Ungleichheiten umgehen, sagt viel über unsere Einstellung zur Gemeinheit aus, über das Verstehen und Respektieren der Unterschiede und über unseren Sinn für Gerechtigkeit.
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Quellen:
[1] https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/zwillinge-genforschung-mutationen-epigenetik-1.5178260
[2] https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/04/PD22_N019_12.html
[3] Narzißmus und Primärbeziehung – Guntram Knapp (S.127 ff)
[4] https://www.achim-schad.de/mediapool/86/864596/data/Geschwisterbeziehungen_Bachelorarbeit_.pdf
[5] https://www.welt.de/politik/deutschland/article241365789/Lieblingskind-Fuer-Grossteil-der-Familien-gehoert-Bevorzugung-zum-Alltag.html
[6] https://www.swr.de/swr2/leben-und-gesellschaft/vertraute-oder-rivalen-wie-praegen-uns-geschwister-swr2-forum-2022-12-23-100.html